Ausstellung ausgewählter Texte am Toni Märt 2015 an der ZHdK

I Das Ungewisse

Das Ungewisse kann verunsichern. Wir können nicht planen, sind verletzlich, müssen vertrauen.

Das Ungewisse kann beflügeln. Wir können uns neu erfinden, treiben lassen, dürfen hoffen.

Einstellungssache.

II Kokon

Er starrt in seinen schwarzen Kaffee und fängt an zu überlegen. Er fühlt sich erschlagen. Fühlt sich leer. So, als wäre alles Brauchbare, alle Kraft, alle Freude, Wünsche und Wärme aus ihm herausgeströmt. Herausgesogen worden? Als wäre er nur noch eine Hülle. Wie die tote Haut einer Schlange, derer diese sich entledigt hat. Wie der runzlige Kokon, der zurückbleibt, wenn der farbige Schmetterling sich befreit.

III Die Anderen

Licht strahlt mir entgegen. Eine Frau mit honigfarbener Haut und gelbem Kleid rauscht am Fenster vorbei. Sie balanciert Teller, Gläser und eine Salatschüssel zum Tisch. Ein Mann. Ein Mädchen mit schwarzen Locken. Ein flackerndes Licht, wahrscheinlich vom Fernseher, lässt den Farbton im Zimmer changieren. Die Frau bewegt sich graziös, streicht ihr Kleid glatt und setzt sich zu Mann und Kind. Das Flackern hört auf und lässt die vertraute Runde einzig im warmen Kerzenlicht zurück.

Ich vergrabe meine Hände in den Manteltaschen und schlendere weiter. Beim nächsten Wohnblock halte ich inne. Zwei Knaben tauchen nacheinander hinter dem Fenster auf und verschwinden in einem anderen Zimmer. Ein Licht im Nebenzimmer geht an. Ich kaue auf meiner Unterlippe. Wende den Blick zum Himmel. Ein, zwei Sterne tauchen auf. Es werden mehr, je länger ich hinschaue. Ich schliesse die Augen. Ein Auto brummt an mir vorbei. Ich kann meinen Atem sehen. Eine feine Wolke die sich rasch verflüchtigt. Ein leichter Luftstoss streichelt meine Wangen. Das Licht im obersten Stock geht an. Sekunden verstreichen. Der Umriss einer älteren Frau erscheint am Fenster. Sie öffnet das Fenster und lehnt hinaus, um die Läden zu schliessen. Das Licht erlischt. „Gute Nacht“, flüstere ich in die Dunkelheit.

In einem Altbau nebenan brennen fast alle Lichter. Musik dringt nach draussen. Junge Menschen strömen von Raum zu Raum. Sie trinken Bier, lachen, unterhalten sich. Wie ausgelassen sie sind! Meine Gesichtszüge entspannen sich. Gedanklich habe ich mich zu der lustigen Gruppe gesellt. Ein braunhaariges Mädchen bindet sich die Haare zum Pferdeschwanz, während sie sich mit einer Freundin in der Küche unterhält. Meine Augen wandern der Fensterreihe entlang. Zwei junge Männer und eine Frau treten auf den kleinen Balkon und zünden sich eine Zigarette an. Einer lehnt lässig am Geländer. Die anderen zwei küssen sich. Kurz aber innig. Im Raum neben der Küche fangen einige zu tanzen an. Ich wippe leicht zum Rhythmus der Musik. Dann drehe ich mich um und lasse die Feiernden hinter mir.

Ich beschleunige meinen Schritt. Zu meiner Rechten steht ein Einfamilienhaus. Eine Schaukel im Garten, ein Auto vor der Garage, eine mächtige Eiche. Alles ist ordentlich, alles in Ordnung. Ein Hund bellt. Im Fenster links unten brennt Licht. Es zieht mich förmlich an. Ich stehe nun direkt vor dem Gartentor. Aus dieser Distanz kann ich eine junge Frau erkennen. Die Haare fallen ihr weich auf die Schultern. Sie schenkt ein Glas Rotwein ein. Plötzlich bleibt sie mitten im Raum stehen und ruft etwas ins Nebenzimmer. Dann wirft sie ihren Kopf in den Nacken und schüttelt sich vor Lachen. Sie nimmt die Weinflasche und verschwindet vom Fenster in den Raum nebenan zu der Person, die sie gerade zum Lachen gebracht hat. Die Frau taucht nicht mehr auf. Ich bleibe alleine zurück und wende mich ab.

Eine halbe Ewigkeit wandere ich durch die Strassen. Hier und dort bleibe ich stehen, beobachte diverse Familien beim Abendessen, einen jungen Mann beim Staubsaugen, Freundinnen beim Filmeschauen, ein Ehepaar beim Abwasch. Bin ich unheimlich? Ich fühle mich wie ein Eindringling, trotzdem kann ich es nicht lassen.

Ich ziehe meine Kapuze über den Kopf und wende meinen Blick von den Häusern ab. Stattdessen beobachte ich, wie meine Füsse mich wie von selbst durch die Strassen tragen. Ich gehe schneller, immer schneller. Plötzlich renne ich. Als mir vor Kälte das Atmen schwerfällt, halte ich an. Ich stehe vor meinem Wohnblock. Mein Blick sucht nach meinem Zimmer im zweiten Stock. Ein Licht brennt. Ich lasse es in der Küche immer brennen. Was die Leute wohl sehen, wenn sie, angezogen vom Licht, durch mein Fenster schauen?

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