Lesung am Zürich liest 2018
Vorgetragener Text zum Thema Scheitern
Niemand hebt die Stimme
«Wie wir letzten Montag gelernt haben…»
Herr Baumer baut sich vor der Klasse auf und fuchtelt mit den Händen. Heute kann sich Philipp kaum konzentrieren. Er sitzt neben dem Klassenclown, aber selbst der traut sich nicht, in der Stunde von Herr Baumer Witze zu reissen. Zwei Reihen schräg vor Philipp sitzt der Neue, Ali, wenn er sich richtig erinnert. Philipp hat vor der Stunde kurz mit ihm gesprochen und er scheint ganz nett zu sein. Sein Deutsch ist etwas holprig, aber Philipp findet, dafür dass er erst zwei Jahre in der Schweiz ist, kann er es ganz gut. «Woher kommst du?», hatte er ihn gefragt.
«Aus Libyen».
Philipp hatte nur genickt. Er hatte sich nicht getraut zuzugeben, dass er selbst im Gymi noch nicht weiss, wo Libyen liegt.
Herr Baumer redet ohne Unterbruch. Die grosse, schwarze Wandtafel ist vollgekritzelt mit Jahreszahlen und Ortsnamen. Um sich wach zu halten beobachtet er Ali, der mit seinem wuscheligen Haarschopf ganz schön heraussticht.
«Die Schweiz hat 1291 noch nicht so ausgesehen wie heute. Es gab damals viele Banditen und die Gebiete der heutigen Kantone Uri, Schwyz und Unterwalden waren unzufrieden mit dem Habsburger, der zu der Zeit über das Gebiet herrschte…»
Philipp folgt Alis Blick aus dem Fenster zum Fussballfeld. Er würde ihn nach der Stunde fragen, ob er Lust auf ein Spiel hätte.
Plötzlich wird er aus seinen Gedanken gerissen. Die Stimme von Herr Baumer bauscht sich auf: «Weisst du überhaupt wo diese Kantone liegen?!», fährt der Lehrer den Neuen an. Doch bevor dieser antworten kann, dreht sich Herr Baumer um und greift nach einem dicken Buch auf seinem Pult.
«Genau das, was ich immer sage: mit der Schweiz geht es bergab!»
Seine Stimme überschlägt sich, als er das Buch vor dem verunsicherten Jungen auf den Tisch knallt. Ali zuckt zusammen. Philipp sieht, wie sich seine Schultern versteifen und er seinen Kopf einzieht. Er würde Herr Baumer am liebsten einen Tritt verpassen.
«Lies das mal durch und bis zur nächsten Stunde will ich einen Aufsatz über die Bedeutung dieser drei Kantone.»
Philipp blickt sich vorsichtig in der Klasse um. Es ist unheimlich still. Die meisten Mitschüler schauen angestrengt vor sich auf ihre aufgeschlagenen Bücher. Der Lehrer geniesst die Situation sichtlich. Niemand traut sich den Blick zu heben und schon gar nicht die Stimme. Philipp hätte die Situation gerne mit dem Handy gefilmt aber leider müssen sie ihre Handys vor der Stunde in einer Schachtel deponieren. Philipp sieht, wie Ali immer tiefer in seinen Stuhl sinkt. In ihm steigt eine unbekannte, kochende Wut auf. Er streicht seine schweissnassen Hände an der Hose ab und atmet schwer, während der Lehrer weiterhin lautstark auf die Klasse einredet.
«Das ist das Problem, wenn man zu viele Ausländer reinlässt. Und an uns bleibt es hängen…»
Der Lehrer verformt sich zur Karikatur. Plötzlich springt Philipp auf, die Hände zu Fäusten geballt: «Was haben Sie denn für ein Problem, Sie arroganter Sack! Wegen intoleranten Leuten wie Ihnen geht die Welt kaputt. Nur weil Sie frustriert sind mit Ihrem Leben! Er ist neu in der Klasse und hat Ihnen nichts getan und Sie schreien ihn an. Sie kennen ja wahrscheinlich nicht einmal seinen Namen. Ali heisst er, Ali!»
Die Klasse springt auf und jubelt.
«Ich werde das der Schulleitung melden!», ruft Philipp und stürmt zur Zimmertür. Da geht diese plötzlich auf und die Schuldirektorin tritt ins Zimmer.
«Was willst du melden?»
Philipp kommt richtig in Fahrt und zeigt auf den Lehrer: «Dass Herr Baumer jemanden fertig macht, nur weil er ein Ausländer ist!», ruft Philipp mit bebender Stimme.
Die Bilder verblassen. Die Stimmen verschwimmen.
«Philipp! Schluss mit Träumen», Herr Baumer schnippt mit den Fingern vor Philipps Nase herum. Dieser blinzelt verwirrt. Sein Herz klopft ihm noch immer bis zum Hals. Der Lehrer schaut ihn erwartungsvoll an. In der Klasse ist es still. Philipp schaut zu Ali. Der ist nur noch ein kleines Häufchen.
«Der Strubbelkopf da vorne weiss nicht einmal, welches die Urkantone der Schweiz sind. Das ist doch unglaublich, findest du nicht?», bellt der Lehrer. Er muss etwas sagen. Er kennt die Worte, doch sie bleiben ihm im Hals stecken.
«Wahrscheinlich weiss niemand von euch Banausen, was sich die drei Urkantone damals angeblich auf der Rütliwiese geschworen haben», schnaubt Herr Baumer verächtlich.
Doch, ich weiss es, denkt sich Philipp. Enttäuscht von sich selbst schaut er zu Ali und murmelt: «Freiheit und Brüderlichkeit».
Vorgetragen von Olivia Grubenmann im arche Brockenhaus & Bistro in Altstetten, bei einer Veranstaltung von Zürich liest 2018.