Lesung im Karl der Grosse 2020
Vorgetragene Texte zum Thema Rausch
I - Fülle und Leere
Was ist Rausch? Dasselbe wie Flow? Ekstase? Adrenalin? Oder doch nichts von all dem?
Im Duden ist neben der Verwirrung von Gedanken und Gefühlen durch zu viel Drogengenuss
und einem übersteigerten ekstatischen Zustand und Glücksgefühl auch von betäubender Vielfalt die Rede.
Die Mitte als Ideal.
Die Mitte
zwischen zwei
entgegengesetzten Lastern.
Mangel und Übermass.
Aristoteles.
Mesotes.
Und der Rausch?
Eine Übertreibung von allem:
Von Liebe, Geld, Macht, Hass, Wut, Höhe, Drogen und Erfolg.
Warum berauschen wir uns?
Um eine Leere zu füllen?
Können wir sie nicht akzeptieren,
die Leere?
Sogar lieben?
Können wir sie nicht als Platz für Neues sehen?
Potenzial der Leere
Die Leere als Potenzial?
Ist wer sich berauscht rastlos, suchend, nicht ausgefüllt?
Ist wer sich berauscht auf der Flucht?
Ist wer sich berauscht, sich selbst nicht genug?
Oder ist es einfach der Drang nach
Mehr?
Inspiration
Macht
Ist es ein Spiel?
Eine Herausforderung?
Wie weit kann man gehen?
Wo wird es enden?
Sind vielleicht alle, die sich nicht berauschen, um eine Erfahrung ärmer?
Der Rausch - eine Erweiterung,
eine Bereicherung
und wer nie im Rausch war, hat keine Farben gesehen?
II - Die Leere danach
Wir hatten Spass. Ziemlich sicher. Haben getanzt und den farbigen, mosaikartigen Formen auf der Leinwand zugeschaut, ein Bier in der einen Hand, die andere in der Luft. Haben laut gelacht, obwohl uns die Musik sowieso übertönt hat, haben deswegen vielleicht noch lauter gelacht als sonst. Wir haben uns angeschaut und ohne es zu sagen verstanden, dass wir es geniessen, dass wir uns frei und gut und glücklich fühlen. Unsere Füsse haben sich von allein bewegt, unsere Körper fühlten sich auf einmal schön an, es gab nur den Moment, kein Gestern, kein Morgen. Der Bass vibrierte in unserer Brust, und wir waren uns nicht mehr sicher was noch Beat und was schon Herzschlag war.
Never ending. Ohhh, never ending.
So hätten wir noch ewig weitermachen können. Denn das Zeitgefühl hatten wir zusammen mit der Unsicherheit, Beengtheit und Angst abgestreift. Wir waren frei.
Und jetzt? Leere. Leere, die wie ein kleiner gleissender Punkt anfängt, und sich langsam durch den Körper arbeitet, in jedes Körperteil vordringt.
Ich will aufstehen, zur Toilette gehen. Doch die kleine Bewegung ist zu viel. Mein Magen knurrt mich an, eine Faust haut auf mein Hirn ein. Der Schrank steht schief. Schnell lasse ich mich zurück ins Kissen fallen. Jetzt kommen die Bilder. Fetzen von Bildern, viel eher. Fragmente. Einzelne Worte. Angefangene Sätze. Halbe Gedanken.
Ich streiche mit der Hand über die leere Stelle links von mir. Das Bettlaken ohne eine Falte. Wo bist du? Du wolltest doch bei mir schlafen? Kann mich nicht erinnern, dass wir uns gestritten hätten. Ich hätte gerne darüber nachgedacht, doch mein Schädel lässt mich nicht. Es ist so laut da drin. Ich kann meine Gedanken nicht hören. Ich wälze mich im Bett und stöhne. Mein Hals ist schleimig, mein Mund trocken. Ich versuche zu schlucken. Es klappt nur halbwegs.
Wasser. Ich brauche Wasser. Es scheint mir in dem Moment das kostbarste was ich haben könnte. Ich sehe das Glas auf dem Tisch neben dem Bett. Es ist halb leer. Ich setze an, spüre wie das Wasser kühl meinen Hals hinunterrinnt, trinke schneller, trinke gierig.
Das Glas ist leer.
Ich auch.
Noch immer.
War es das wert?
Ich erinnere mich nicht mehr an viel. Aber ich sehe deine verschmitzt funkelnden Augen, deine Grübchen in den Wangen, das zarte, goldene Kettchen auf dem Schlüsselbein. Deine Hand auf meiner Schulter. Ich fasse hin, die Stelle warm, als hätte deine Hand noch bis eben hier gelegen. Jetzt bin ich allein. Hab ich dich vertrieben? Ich war eine andere Person. Bin selbst überrascht von meinem Mut. Wir haben uns geküsst, das habe ich nicht vergessen. Aber was war danach? Du wolltest doch bei mir schlafen! Wir wollten zusammen ausschlafen, den ganzen Tag im Bett liegen, uns gegenseitig vorlesen, durchs Haar streichen, uns lieben und gemeinsam an die vergangene Nacht denken. Alleine kann ich mich nicht erinnern.
Warum bist du nicht bei mir?
Vorgetragen von Olivia Grubenmann im Karl der Grosse in Zürich, 13.März 2020.
Zur Veranstaltung: Im Moment vergessen